Quelle: tagesschau.de, von Markus Grill und Antonius Kempmann, NDR & WDR
Geht es nach Gesundheitsminister Spahn, soll seine Behörde künftig eigenmächtig darüber entscheiden, welche Therapien von den Krankenkassen bezahlt werden – unabhängig von der Studienlage. Kritiker sind entsetzt.
Der Änderungsantrag Nummer 28 zum neuen Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) hat es in sich. Darin ermächtigt sich das Gesundheitsministerium selbst, zu bestimmen, welche Therapien von den Krankenkassen bezahlt werden müssen – auch wenn es keinen wissenschaftlichen Beleg für einen Nutzen gibt.
Erfolg der Pharma-Lobby?
Der Antrag liegt NDR und WDR vor. Darin heißt es, dass das Gesundheitsministerium die Krankenkassen dazu zwingen kann, auch Therapien zu bezahlen, “deren Nutzen nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin noch nicht belegt ist”. In der Begründung für diese Verordnungsermächtigung heißt es, dass das Ministerium dadurch “in die Lage versetzt wird, neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden unabhängig von einer Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung aufzunehmen”.
Branchenkenner vermuten in der von Gesundheitsminister Jens Spahn geplanten Änderung einen Erfolg der Pharma- und Medizinprodukte-Lobby, die immer wieder Kritik an der bisher strengen Bewertung des medizinischen Nutzens neuer Produkte übt.
Harsche Kritik
Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das den Nutzen neuer Medikamente bewertet, kritisiert den Gesetzesentwurf scharf. “Künftig kann eine Behandlungsmethode in die Versorgung gebracht werden, die keinen Nutzen hat oder die sogar schädlich ist”, sagt Windeler. “Das ist ein Rückschritt hinter die Standards, die wir längst erreicht haben.” Für Patienten bedeute das, dass sie sich nicht mehr darauf verlassen können, dass Behandlungsmethoden sicher und nützlich sind, kritisiert Windeler.
Bisher entscheidet in Deutschland ausschließlich der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), welche Medikamente und Behandlungsmethoden von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt werden. Der GBA ist per Gesetz dazu verpflichtet, diese Entscheidung auf Grundlage hochwertiger wissenschaftlicher Studien zu fällen. Im GBA sitzen Vertreter von Ärzten, Kliniken und Krankenkassen.
“Aushöhlung der evidenzbasierten Medizin”
Vorsitzender ist der ehemalige saarländische Gesundheitsminister Josef Hecken. Er kritisiert die von Spahn geplante Gesetzesänderung ebenfalls scharf als “vollständiger Systembruch”. Sie sei zudem “ein Schritt zurück ins medizinische Mittelalter”, so Hecken. “Alle Grundprinzipien der evidenzbasierten Medizin werden damit über Bord geworfen.” Damit werde ein elementarer Schutz aufgegeben, wie Patienten vor “unnützen oder gar schädlichen Behandlungsoptionen” geschützt werden können.
Der Änderungsantrag ist offenbar nicht abgesprochen mit dem Koalitionspartner SPD. Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Karl Lauterbach, sagte gegenüber NDR und WDR, dass die geplante Gesetzesänderung “eine komplette Aushöhlung der evidenzbasierten Medizin wäre”. Sie würde das Gesundheitsministerium “zu einer medizinischen Superbehörde” machen. “Der Entwurf ist mit uns nicht abgestimmt und die SPD wird das nicht mittragen, das ist Konsens bei uns in der Fraktion”, sagt Lauterbach.
“Traum für die Industrie – Albtraum für Patienten”
Die Linkspartei bezeichnet Spahns geplante Gesetzesänderung als “die Einführung von Willkürentscheidungen”. Neue Hochrisikoprodukte könnten so an Patienten getestet werden, ohne dass überprüft werden müsste, ob sie medizinisch sinnvoll seien, kritisiert Sylvia Gabelmann, Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrecht der Bundestagsfraktion der Linken. Das sei “ein Traum für die Industrie und ein Albtraum für die Patientinnen und Patienten.”
Zuerst hatte die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” am Beispiel des Fettabsaugens über die geplante Änderung berichtet. Dieses Beispiel wird auch in der Begründung der Gesetzesänderung angeführt. Spahn will, dass der Eingriff bei einer krankhaften Fettverteilungsstörung künftig bezahlt wird. Nach Ansicht des GBA sei das Beispiel jedoch ungeeignet, um als Begründung für den nun geplanten “Systembruch” herzuhalten.