Laut Abwasserproben ist SARS-CoV-2 seit 2019 aktiv. Bundesregierung hat dazu »keine eigenen Erkenntnisse« Von Lenny Reiman
Die Bundesregierung präsentiert sich derzeit im Kampf gegen das Coronavirus mit auffallendem Aktionismus. Weitere Maßnahmen sollen verhindern, dass die Infektionszahlen weiter stark ansteigen. Ein übermäßiges Interesse der politisch Verantwortlichen, wann genau das Virus das erste Mal aufgetreten ist, ist jedoch nicht zu beobachten. Zum Beispiel wurden Abwasserproben in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern nicht darauf analysiert.
Wann und wo genau die Pandemie tatsächlich ihren Anfang nahm, gilt als unbestimmt. Am Montag abend strahlte die ARD die Dokumentation »Der Zug der Seuche« aus. Darin konstatieren Mediziner, dass sich das hochgefährliche Virus offensichtlich bereits 2019 – und damit deutlich früher als bisher behauptet – in Europa und auch in Deutschland ausgebreitet haben könne. So berichtet Michael Schmitt, Radiologe am Albert-Schweitzer-Krankenhaus in Colmar im Elsass, dass er Krankheitssymptome mehrerer Patienten aus dem vergangenen Jahr erneut betrachtet habe. Auf einigen Röntgenbildern, die vom 16. November und aus dem Dezember stammen, habe er Hinweise auf eine Covid-19-Erkrankung gefunden.
Die Universität von Barcelona hatte zudem SARS-CoV-2 in Abwasserproben nachgewiesen, die schon am 12. März 2019 entnommen worden waren. Am 26. Juni dieses Jahres veröffentlichte die Hochschule die Ergebnisse dieser Untersuchung. Während in vielen weiteren europäischen Ländern aus dem vergangenen Jahr stammende Abwasserproben in letzter Zeit getestet wurden, um die Entstehung der Coronapandemie nachzuzeichnen, hat die deutsche Bundesregierung daran bisher kein Interesse gezeigt. Zwar werden in Deutschland regelmäßig derlei Abwasserproben entnommen, um dadurch beispielsweise auf Drogenkonsum in der Bevölkerung schließen zu können. In bezug auf das Coronavirus fehlt der Bundesregierung jedoch die Bereitschaft, dessen Ursprung nachzugehen. Auf eine von der Bundestagsabgeordneten Sylvia Gabelmann (Die Linke) gestellte Anfrage, zu welchem Zeitpunkt das Virus das erste Mal in Abwasserproben aus Deutschland nachgewiesen worden sei, antwortete die Bundesregierung am 22. Juli lapidar, dass ihr »dazu keine eigenen Erkenntnisse« vorlägen.
»Diese Ignoranz ist wirklich erschreckend. Während die übergroße Mehrheit der europäischen Länder versucht, das Virus zu stoppen, macht die Bundesregierung nicht einmal ihre banalsten Hausaufgaben«, kritisierte Gabelmann, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit, am Montag gegenüber jW. Ein dilettantischer Umgang der Regierung mit Maßnahmen gegen die Pandemie ist notorisch: Zum Beginn der Pandemie im März wurde selbst die Sinnhaftigkeit des Mund-Nasen-Schutzes bezweifelt, nicht zuletzt, weil zu wenig entsprechendes Material vorrätig war.
Bereits am 6. Juli hatte die Bundesregierung auf eine weitere schriftliche Frage Gabelmanns mitgeteilt, dass sie trotz anderslautender wissenschaftlicher Erkenntnisse dabei bleibt, der erste Fall einer Infektion mit dem Virus in Deutschland sei am 27. Januar dieses Jahres aufgetreten. »Die Bundesregierung ignoriert bis heute eine Reihe wichtiger Erkenntnisse von Medizinern und Wissenschaftlern und hat damit nicht nur in der Vergangenheit die Gesundheit der Bevölkerung schwerwiegend gefährdet. Sie tut es – und das sogar mit Vorsatz – auch weiterhin«, kritisiert die Bundestagsabgeordnete.
Mittlerweile ist auch unklar, an welchem Ort das Virus das erste Mal aufgetreten ist. So berichtet der Genetiker Peter Forster in der ARD-Dokumentation, dass die Pandemie ziemlich sicher im Süden Chinas – nicht in Wuhan – oder einem angrenzenden Land ihren Ursprung genommen habe und sich schnell auch vereinzelt in Europa verbreitet habe.
Quelle: Tageszeitung junge Welt, Ausgabe vom 25.08.2020, Seite 1 / Titel. Von Lenny Reimann: https://www.jungewelt.de/artikel/384963.kampf-gegen-pandemie-ursprung-des-virus-ignoriert.html